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Die Florentiner serata, Teatro Verdi 12.12.1913

 

(von Ann-Katrin Günzel)

Die serate futuriste setzten ab 1910 als Propagandaveranstaltungen für den Futurismus ein und beinhalteten die Deklamation von Gedichten sowie politisch- weltanschaulicher Ideen der Futuristen, später kamen zunehmend künstlerische Ideen und Innovationen aus anderen Bereichen wie Architektur, Malerei, Musik und Tanz hinzu.

Obwohl die Futuristen 1913 also bereits zahlreiche provokative und in der Folge spektakuläre serate in den Theaterhäusern Italiens aufgeführt hatten und das Publikum demnach wusste, was es zu erwarten hatte, folgte Ende des Jahres im Florentiner Teatro Verdi eine futuristische Veranstaltung, die dennoch aufgrund des ausbrechenden Tumultes als die „Battaglia di Firenze“ in die Geschichte einging. Zeitgenössischen Berichten nach zu urteilen sollen etwa 2.000 – 7.000 Besucher in den Theatersaal eingepfercht gewesen sein und schon das Erscheinen der Futuristen auf der Bühne gegen 21:30 Uhr reichte, um nach den Worten des Malers Ardengo Soffici ein „Inferno“ ausbrechen zu lassen.[1]

 

Das Theater wurde bewußt als symbolischer Ort des passiven Konsums von Kultur seitens des konservativen Bildungsbürgertums gewählt. Dieser passatistische Konsens sollte unterwandert und lauthals zerstört werden, d.h. das Theater wurde als öffentlicher Ort der Kommunikation benutzt und damit neu besetzt.[2] Die futuristische Direktmitteilung ersetzte  herkömmliche künstlerische Ausdrucksmittel, indem sie Dynamik, Bewegung und Aggression methodisch und formal an deren Stelle setzte. Marinetti benannte seine neue Strategie mit den Worten: “Scendere nelle vie, dar l’assalto ai teatri e introdurre il pugno nella lotta artistica!“[3]

 

Das Programm der Florentiner serata glich den bereits vorhergegangenen, indem die Futuristen ihr politisches und künstlerisches Konzept vorstellten und freie Verse futuristischer Dichtung folgen ließen. Anschließend aber verlas der Florentiner Dichter Giovanni Papini sein Manifest mit dem Titel Contro Firenze passatista, in dem er Florenz zur „am wenigsten futuristischen Stadt der Welt“ erklärte.[4] Papini nannte die Stadt darin ferner eines der wurmstichigsten Gräber der Künste (una delle tombe più verminose dell’arte) und forderte die Florentiner auf, nicht mehr weiter ein großes Museum für die Touristen darzustellen, sondern stattdessen Gegenwart und Zukunft zu leben, die engen Strassen zu erweitern und die Passatisten und Dantisten in den Arno zu befördern, um aus dem musealen, mittelalterlichen Florenz endlich eine moderne europäische Stadt zu machen. Dafür müsse aber der Mut entwickelt werden, das scheinbar glorreiche Erbe, das in Wahrheit ein tödliches Gewicht sei und sowohl die Seele verderbe als auch die Schultern niederdrücke, abzuwerfen. [5] Der neue – energetische und desinfizierende –  Wind des Futurismus sei in einer solchen Stadt, die so triefend, krank und schimmelig vor Passatismus sei, unbedingt notwendig, um darauf aufmerksam zu machen, dass man inzwischen das Jahr 1913 schreibe. Indem dem Publikum per proklamierter Verachtung der Krieg erklärt wurde, forderten die Futuristen es gleichzeitig zu einer Reaktion heraus. Und in der Tat entfesselte Papini einen Sturm der Entrüstung, denn das Publikum reagierte auf diese Beleidigung seiner Heimatstadt seitens eines gebürtigen Florentiners mit totaler Raserei: es schrie und pfiff, blies in Pfeifen und Hörner, lärmte mit Rasseln und allen erreichbaren Gegenständen, die zum Teil auch, zusätzlich zu einem bereits obligatorisch gewordenen Gemüsehagel, zur Bühne flogen. Trotz des von Cangiullo als geradezu dantesk beschriebenen Abends, wurde das Programm weiterverfolgt, und auch nachdem Carrà während seines Vortrags über die „pittura dei profumi“ von einem stinkenden Ei getroffen wurde, ergänzte Soffici noch seine Erläuterungen über die „pittura futurista“ und Boccioni erörterte den „dinamismo plastico“.[6]

Am Ende der Florentiner serata kam schließlich die Polizei auf die Bühne und schloß die Veranstaltung. Die Futuristen feierten ihren Erfolg daraufhin noch bis zum nächsten Morgen im Caffè „Giubbe Rosse“ auf der Piazza Vittorio Emanuelle II (heute Piazza Repubblica). Im Nachhinein bezeichnete Marinetti die Florentiner serata mit ihrem ausufernden Tumult allerdings als „bestiale e dannosa sotto tutti i punti di vista“ und weigerte sich, eine weitere serata in Florenz zu veranstalten.[7] Der Florentiner Dichter Alberto Viviani, der sich im Publikum befand, beschrieb die Anwesenden als Bürgerliche jeder Art: Studenten, bekannte und unbekannte Aristokraten, Polizisten und eine große Anzahl vulgärer Personen sowie Abschaum der Stadt.[8] Es seien aber auch geschätzte Persönlichkeiten gekommen, wie die Dichter Aldo Palazzeschi und Theodor Däubler, die Verleger Ferrante Gonnelli und Attilio Vallecchi sowie die beiden Schriftsteller und Philosophen Arrigo Levasti und Arturo Reghini sowie daneben eine Menge den Futuristen wohlgesonnener Bewunderer.

 

In der Presse sind nur wenige und zum Teil widersprüchliche Berichte zur Florentiner serata zu finden. Die Tatsache, dass just am selben Abend Leonardo da Vincis aus dem Pariser Louvre gestohlenes Bild der „Mona Lisa“ bei einem Antiquar im Borgo Ognissanti gefunden wurde, machte ausgerechnet dieses passatistische Gemälde am nächsten Tag zum Hauptthema in der lokalen Presse.[9] Die futuristische Zeitschrift Lacerba beschrieb am 15.12. in einem resoconto sintetico zwei kämpfende Gruppen: auf der einen Seite die Futuristen mit ihren Waffen Mut, Unverschämtheit, neue Ideen und originelle Dichtung, auf der anderen ca. 5000 Feinde mit Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln und Äpfeln, elektrischen Lampen, Trompeten und Autohupen. Während die Futuristen laut „Lacerba“ eine „grande gioia“ verbuchen konnten, hatten die Feinde lediglich Müdigkeit, Heiserkeit, Spesen und schließlich eine große Flucht zu verzeichnen.[10]

Die serate waren bewusst als Skandal angelegt, denn der Aufruhr bestätigte die Wirkung der vorangegangenen Provokation. Mediale Aufmerksamkeit und daraus resultierend eine große Reichweite waren so (fast) garantiert. Der Schock mobilisierte. Die serate waren damit eine neue künstlerische Mitteilungsform, ein wirkungsästhetisches Mittel, um den futuristischen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen. Da die Futuristen ihre Manifestationen nicht mehr als reine Textbeiträge vorlasen oder deklamierten, sondern vielmehr auf der Bühne frei zu ihren Worten agierten und dabei eine Reaktion provozierten, begannen sie damit eine Form der Aktionskunst, die aus realer und oft auch spontaner Handlung (Aktion) und Interaktion des Publikums bestand und die Marinetti als arte-azione bezeichnete.[11]

 

 


[1] Soffici, A.: Fine di un mondo, Florenz 1955, S. 328. Auch Viviani, A.: Giubbe rosse. Il caffè fiorentino dei futuristi negli anni incendiari 1913-1915, Florenz 1983, S. 66 schreibt, dass ein bestialisches und angsteinflößendes Getöse losging, kaum habe sich der Vorhang geöffnet und die Futuristen seien auf der Bühne erschienen.  La nazione (Firenze 13.12.1913) berichtet von etwa 2.000 Anwesenden, die Futuristen steigern diese Zahl auf 5.000. vgl. Lacerba (“Grande serata futurista” 15.12.1913) und Cangiullo, F.: Le serate futuriste, 1960, S. 102, während der Corriere della sera (“Serata di baccano a Firenze” 13.12.1913) anderntags gar von 7.000 Personen spricht: In alcuni palchi avevano preso posto più di venti persone (ebda.). Da das Archiv des Teatro Verdi 1966 von den Fluten der Arnoüberschwemmung zerstört wurde, sind keine Dokumente von dieser Stelle überliefert.

[2] Siehe hierzu auch das Manifest La voluttà d’essere fischiati (1911).

[3] F.T. Marinetti: Guerra sola igiene del mondo (1915). Prime battaglie futuriste, in: Teoria e invenzione futurista, hrsg. Von Luciano de Maria, Mailand 1968, S. 201.

[4] Archivi del Futurismo, hrsg. von M. Drudi Gambrillo und T. Fiori, Bd. 1, Rom 1958, S. 180-183.

[5] Che si abbia il coraggio di rinunziare a quella che ci sembra la nostra gloriosa eredità e invece è il peso morto che ci rovina l’anima e ci piega le spalle. G.Papini: Contro Firenze passatista. Firenze, Teatro Verdi 12.12.1913, publ. In: Lacerba 15.12.1913 sowie in: Archivi del Futurismo (1958) a.a.O., S. 180-183.

[6] Däubler, Th.: Im Kampf um die moderne Kunst, Berlin 1919, S. 138.

[7] Marinetti in einem Brief an Papini, 16. Dez. 1913 (Archivio Papini, Fondazione Primo Conti, Fiesole), publ. Bei Berghaus, G.: Italian futurist theatre, Oxford 1998, S. 127.

[8] Viviani, A.: Giubbe rosse. Il caffè fiorentino dei futuristi negli anni incendiari 1913-1915, Florenz 1983, S. 66. Viviani verwendet die toskanischen Begriffe beceri e teppa in gran numero, um das Publikum zu beschreiben.

[9] La nazione, Firenze 13.12.1913, hier erscheint der Bericht über die serata erst auf S. 4.

[10] Lacerba, N. 24, Florenz 15.12.1913, Titelseite.

[11] F.T. Marinetti: Guerra sola igiene del mondo (1915). Prime battaglie futuriste, in: Teoria e invenzione futurista, hrsg. Von Luciano de Maria, Mailand 1968, S. 201. s. Zur Entwicklung einer frühen Aktionskunst seitens der Futuristen auch Günzel, Ann-Katrin: Eine frühe Aktionskunst: Die Entwicklung der arte-azione im italienischen Futurismus zwischen 1910 und 1922. Ein Vergleich mit Happening und Fluxus, Frankfurt 2006.